Myteriösem Merroir auf der Spur

Was an Land als Terroir bezeichnet wird, gibt es auch unter Wasser – hier heißt es Merroir. Allein, so richtig belegt ist dieses Phänomen kaum. Also haben wir uns mit ­einem Taucher und Spitzenköchen an Norwegens Küste auf abenteuerliche Spurensuche begeben.
November 9, 2023 | Text: Johannes Stühlinger | Fotos: Rene Flindt

Knorrige Nadelbäume, die sich an die Felsen ducken. Wellen klatschen an das Boot und die steife Brise trägt das Salz von der Gischt auf direktem Weg ins Gesicht. Doch wenn man diese so wildromantische Naturszenerie einfach ausblenden würde, wir könnten auch irgendwo im Weltraum schweben: Der spezielle Trockentauchanzug, in dem Knut Magnus Persson steckt, wirkt wahrlich wie nicht von dieser Welt. Raumanzug, aber sowas von!

Und tatsächlich wird der Mann in wenigen Augenblicken in eine für Außenstehende unwirklich wirkende Welt abtauchen: zu seinem ungelogen 6.381sten Tauchgang in einem der tausenden Fjorde Norwegens. Um das zu tun, was er täglich tut: Muscheln und andere Meerestiere an die Oberfläche zu holen. Damit die Chefs in den Fine-Dining-Restaurants dieser Welt beste Ware servieren können.

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Der Mann und das Merroir: Knut Magnus Persson taucht mit seinem Team täglich im eiskalten Wasser nach besonders schmackhaften Meerestieren

Knorrige Nadelbäume, die sich an die Felsen ducken. Wellen klatschen an das Boot und die steife Brise trägt das Salz von der Gischt auf direktem Weg ins Gesicht. Doch wenn man diese so wildromantische Naturszenerie einfach ausblenden würde, wir könnten auch irgendwo im Weltraum schweben: Der spezielle Trockentauchanzug, in dem Knut Magnus Persson steckt, wirkt wahrlich wie nicht von dieser Welt. Raumanzug, aber sowas von!

Und tatsächlich wird der Mann in wenigen Augenblicken in eine für Außenstehende unwirklich wirkende Welt abtauchen: zu seinem ungelogen 6.381sten Tauchgang in einem der tausenden Fjorde Norwegens. Um das zu tun, was er täglich tut: Muscheln und andere Meerestiere an die Oberfläche zu holen. Damit die Chefs in den Fine-Dining-Restaurants dieser Welt beste Ware servieren können.

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Der Mann und das Merroir: Knut Magnus Persson taucht mit seinem Team täglich im eiskalten Wasser nach besonders schmackhaften Meerestieren

Austern, Teppichmuscheln, Islandmuscheln, Pferdemuscheln und Jakobsmuscheln von allerhöchster Güte, auf die hat er es von ­Berufs wegen abgesehen. Denn – so sagt man –, er ist der Mann, der weiß, wo die allerbesten gedeihen. Knut Magnus Persson sei ein wahrer Versteher des norwegischen Merroirs.

Experten auf Expedition

Tatsächlich finden sich in der Fachliteratur nur sehr wenige fundierte Publikationen, die sich mit diesem in der Kulinarik immer häufiger benutzten Begriff befassen.

„In Wahrheit gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass es Merroir überhaupt gibt“, sagt Heiko Antoniewicz. Der deutsche Koch, Autor und Produktexperte ist einer von drei Chefs, die auf dieser Reise an die wilde Küste Norwegens zumindest ein wenig Licht in die so mysteriöse Sache bringen wollen. Ebenfalls an Bord von Knut Magnus’ Muscheltauchschiff: Zwei-Sterne-Koch Daniel Schimkowitsch aus dem L.A. Jordan in Deidesheim und  Stefan Fäth aus dem einfach besternten Jelly Fisch in Hamburg.

Es gibt keine Belege dafür, dass es Merroir überhaupt wirklich gibt!
Heiko Antoniewicz zeigt sich selbst neugierig

Für das Feinschmeckertrio steht schon lange fest, dass sich vor ­allem Muscheltiere im Geschmack und in ihrer Konsistenz fast immer überraschend stark voneinander unterscheiden. Aber warum das so ist? Hier herrscht in der Regel ratloses Schulterzucken. Eben dieses könnte jedoch durch die Merroir-Theorie bald der Vergangenheit angehören.

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Wenn es um differenzierte Geschmäcker und deren Hintergründe geht, gilt Heiko Antoniewicz international als ausgewiesener Experte. Dementsprechend gerne schloss sich der deutsche Kulinarik-Nerd der Suche nach dem norwegischen Merroir an. Sein Fazit: „Die Frage ist nicht, ob es diese Differenzierung gibt, die Frage ist, wie wir sie besser verstehen können!“

Was bedeutet Merroir überhaupt?

Grundsätzlich versteht man unter Merroir das Unterwasser-Pendant zum an Land längst geläufigen Terroir. Am einfachsten lässt sich das am Thema Wein festmachen: Bei Wein ist Terroir nicht nur Bestandteil, sondern gar das Konzept, dass sich sein Geschmack aus dem Gefühl für den Ort ergibt. Es gilt als selbstverständlich, dass Gelände, Boden, Sonneneinstrahlung, Wasserqualität und das Mikroklima eines Weinbergs zu einem einzigartigen Wein beitragen, der einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit widerspiegelt.

Eben dieses Phänomen soll aber nicht nur Produkte, die an Land reifen, prägen, sondern eben auch jene, die unter der Wasseroberfläche gedeihen. Der dieses Phänomen spiegelnde Begriff „Merroir“ wurde allerdings erst 2003 erstmals postuliert: Ein muschelfreudiger Lebensmitteljournalist der Seattle Times verwendete dieses Vokabel, um den speziellen Geschmack einiger besonders frischer pazifischer Austern zu beschreiben. Seine damalige Herleitung: „Mer“ (steht für „Meer“) wird mit dem Suffix „-oir“ (das normalerweise einen bestimmten Ort bezeichnet) kombiniert, um ein maritimes Pendant zum Wort „Terroir“ zu schaffen.

Sprich: Es ist ein reines Kunstwort, das sich immer tiefer in den lukullischen Sprachschatz gegraben hat. Und dem nun die drei Chefs auf den Grund (des Meeres) gehen wollen.

Also, zurück zum Tauchboot zu Knut Magnus. Der  44-Jährige streift sich gerade seine außergewöhnlich geformten Flossen über. „Die wurden für die Navy Seals entwickelt, sind extrem schwer zu bekommen, richtig teuer, aber für meine Arbeit unverzichtbar“, sagt er noch.

Maske übers Gesicht, Regler in den Mund und – platsch! – schon ist der Mann vom Meer verschluckt. Die Art und Weise, wie der Gründer des Unternehmens Scalmarin abtaucht, erzählt nicht nur von einer besonderen Art der Routine. Sein Abstieg in bis zu 25 Meter Tiefe eiskaltem Nordmeer wirkt so, als würde unsereins die Bürotüre aufschließen. Allein, was der Mann in gut einer Stunde an Deck bringen wird, hat mit einem Bürojob freilich nichts zu tun.

Wie ein Geschäftsmodell entsteht

Aufgewachsen im norwegischen Bergen war das Meer für Knut Magnus Persson von Kindesbeinen an ständiger Begleiter. Das Tauchen bald Leidenschaft. Und die Tatsache, dass Austern vom einen Fjord anders schmecken als vom anderen, Allgemeinwissen. „Als ich verstanden habe, dass dieser Umstand für viele nicht selbstverständlich ist und gerade Spitzenköche auf besondere Geschmäcker angewiesen sind, hat sich die Geschäftsidee von Scalmarin schnell herauskristallisiert“, erzählt er heute.

Das Ergebnis kann sich nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht sehen lassen – es wird vor allem anhand der von ihm und seinem Team getauchten, gefischten und gefangenen Meerestiere offensichtlich: 25 Tonnen Muscheln und Meerestiere gehen jährlich über seinen Ladentisch. Hinzu kommen gut fünf Tonnen Seegras – aber nicht irgendwelches. Vielmehr gedeiht in dem von Scalmarin bewirtschafteten Fjord vor allem die sogenannte Trüffelalge. Sie ist ein außergewöhnlich jod­haltiges Gewächs, dessen Knoten tatsächlich einen Trüffelgeschmack imitieren. Vor allem getrocknet wird diese Alge derzeit von Top-Chefs als Toping gehyped. Fazit: Ein Kilo getrocknete Trüffel-Alge geht auf dem Fischmarkt derzeit um 500 bis 600 Euro weg.

Doch auch wenn dieser besondere Geschmack der Alge genauso mit der Region, in der sie gedeiht, in direktem Zusammenhang steht, ist sie doch nur eine Randnotiz auf dieser Merroir-Expedition. Denn aus geschmacklicher Sicht wirklich abenteuerlich wird es dank jener Zutaten, die unser furchtloser Taucher nun aus den Tiefen der asphaltschwarzen Nordsee emporholt.

„Das war ein guter Tauchgang“, sagt Knut Magnus. Überraschend, da er jetzt zwar patschnass an Steuerbord seine Flossen mit einem raschen Griff abstreift – allerdings mit leeren Händen dasteht! „Seht ihr hier vorn, knapp unter der Wasseroberfläche, diese Boje schweben? Da ist ein Sack dran mit ungefähr 100 Kilogramm Muscheln drinnen. Und dort drüben – noch eine Boje.“

Gesamt sind es fünf Sammelsäcke, die seine gut einstündige Jagd ergeben hat. Alle möglichen Muscheln, aber auch Seeigel sind dabei. Und noch während Knut Magnus seinen Fang an Deck hievt, sind Heiko Antoniewicz, Daniel Schimkowitsch und Stefan Fäth schon dabei, Produkte zur Vergleichsverkostung herauszupicken. Am Ende werden es einheimische norwegische Austern sein, die mit der gezüchteten und der pazifischen Auster verglichen werden. Seeigel gleicher Art, die an verschiedenen Böden gesammelt wurden, und Jakobsmuscheln. Sogar eine Seegurke findet ihren Weg in Richtung Teller.

Spoiler: Geschmacklich ist sie am unspektakulärsten, weil ihr aber potenzsteigernde Wirkungen nachgesagt werden, verkauft der ungewöhnliche Fischhändler auch von ihnen eine gewisse Anzahl. Und, nein, die Überprüfung dieser Wirkung ist nicht Teil dieses Abenteuers.

Auf zur Kostprobe

Jetzt drückt Knut Magnus aufs Gas, der Kiel hebt sich sanft aus dem Wasser. Immer höher sprüht die Gischt, der Fahrtwind trocknet den vom Tauchen noch nassen Kapitän. Ziel ist eine kleine Insel, wildromantisch und abgelegen. Drauf nur ein kleines Haus mit einem Schuppen – und Knuts Schwester Mariann Persson.

Der perfekte Ort, um die frischen Produkte fachgerecht zu genießen. Und weil man derart spezifischen Genuss schwer beschreiben kann, kommen wir gleich zum Fazit der drei Chefs: An den Austern ist besonders klar erkennbar, dass sie jeweils aus anderen Gewässern stammen. Während die aus dem hiesigen Fjord besonders intensiv und jodig im Geschmack sind, fühlen sich jene aus Brackwasser nicht nur im Mund anders an, sie sind auch süßer.

Hintergrund: Dort ist das Wasser weniger salzhaltig! Besonders groß aber ist der Unterschied der Seeigel. Während das zarte Fleisch des auf sandigem Boden geernteten intensive Bitternoten aufweist, ist der Geschmack des auf Kalkstein gewachsenen Artgenossen regelrecht süß. Knut Magnus weiß: „Sterneköchin Heidi Bjerkan hat immer 50 Stück bestellt, damit dann ein paar süße dabei sind. Wir aber können ihr sehr genau die liefern, deren Geschmack sie gerade braucht.“ Ebenso deutlich gelingt die Zuordnung bei den Jakobsmuscheln. Allerdings bilden diese eine Besonderheit: Sie können im Unterschied zu Austern nämlich wandern und so aktiv Lebensumstände und somit auch Geschmack verändern.

Woher rührt der differenzierte Geschmack?

Auch wenn es keine hochwissenschaftlichen Studien zum Thema Merroir gibt, scheint es so, als würde dieses tatsächlich existieren. Und wenn man sich generell die Gegebenheiten, unter denen Meeresfrüchte heranwachsen, vor Augen führt, lässt sich mit ein bisschen Logik recht viel erklären, sagt Heiko Antoniewicz.

Zusammengefasst: In warmen Gefilden wachsen Tiere und Pflanzen ob des Überflusses an Nahrung und der Wassertemperatur schneller. Das hat schon einmal Auswirkungen auf die Konsistenz des Fleisches. Je kälter das Wasser, umso langsamer das Wachstum. Gleichzeitig aber filtern gerade Muscheln, Seeigel und andere kleinere Meerestiere aus dem Wasser, das sie umspült, ihre Nahrung. Somit entsteht aus dem Zusammenspiel aus Wachstumsgeschwindigkeit und Nährstoffen im Wasser und auf dem Grund, auf dem sie leben, eine immer einmalige Situation. Eine, die natürlich auch den Geschmack des Fleisches beeinflusst.

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Knut Magnus Persson hat fast 7.000 Tauchgänge hinter sich, von jedem hat er gut 500 Kilo Meerestiere mitgebracht und an die Sterne-Küche verkauft. Daher weiß er nicht nur, dass etwa Austern an unterschiedlichen Orten stets anders munden, er weiß vor allem, wo und wann es besonders gute gibt. Und wo man zu welchen Jahreszeiten lieber die Finger von ihnen lässt

So gibt es gerade bei Austern eine plakative Sache zu beobachten: Gedeihen sie im Umfeld von viel Seegras, werden sie oft nicht nur grün, auch eine Art Salicornes-Geschmack geht ins Fleisch über. Weitere Erkenntnis des Chef-Trios: Um diesen Geschmacksunterschied in seiner Intensität wirklich für die Gäste zuhause nutzen zu können, müssen die Produkte mit maximaler Frische – also im Grunde noch lebendig – verarbeitet werden.

Das funktioniert dank von in Norwegen entwickelten Tanks, in denen Meerestiere samt Meerwasser in die ganzen Welt verschickt werden können, auch ganz wunderbar. Allein, es macht das Produkt natürlich schnell recht teuer. Dennoch schwören seit Jahren große Chefs wie René Redzepi auf diese besondere Fracht. Weil diese Merroir-differenzierte Geschmackserfahrung eben so besonders ist.

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Der Kaisergranat ist in Norwegen ein besonders viel gefangenes Tier. Das kühle Meer verleiht seinem Fleisch eine besondere Konsistenz

Doch freilich sind Erkenntnisse einer kleinen Expedition wie dieser weit weniger glaubhaft als Ergebnisse von großen Studien. Deshalb hat das offizielle Norwegen inzwischen eine solche angestoßen: An der Universität Bergen versucht man unter Laborbedingungen den Zusammenhang von Seegrasfütterung bei Seeigeln und ihrem Geschmack zu ergründen.

Derzeit sieht es so aus, als könne man alsbald nachweisen, dass derartiges Futter sowohl Grüne als auch Rote Seeigel süßer macht. Eine Erkenntnis, die, sobald publiziert, wissenschaftliche Wellen schlagen dürfte. Bei Knut Magnus Persson aber wohl nur Schulterzucken auslösen wird.

www.seafoodfromnorway.com

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