Der Weg zum Tanz
Im März 2020, und es fühlt sich an als wäre es viel länger her, prognostizierte der Technologieberater Tomás Puyeo in einem seitdem millionenfach geteilten Artikel, wie die nächsten Monate mit Covid-19 aussehen würden. Er nannte es den „Hammer“ und den „Tanz“. Kurze Phasen restriktiver Eingriffe in unseren Alltag, gefolgt von längeren Perioden relativer Normalität. Der Hammer sollte die Reproduktionszahl drücken, belohnt durch den Tanz und den Versuch einer Koexistenz mit dem Virus.
Das Wechselspiel aus Hammer und Tanz sollte der Forschung 18 Monate Zeit verschaffen. So lange würde es dauern, bis Impfstoffe bereitständen. 18 Monate, das habe ich gelernt, sind eine lange Zeit voller Unsicherheiten. Aber sie waren eine Perspektive, auch wenn völlig unklar war, ob die Entwicklung von Impfungen in so kurzer Zeit zu schaffen ist.
Der Rückblick zeigt, dass Puyeo richtig lag. Weltweit schwangen Staaten den Hammer, um sich mit einem anschließenden Tanz zu belohnen. Maskenpflicht, Lockdowns, Home Schooling, Home Office, Home-Praktisch-Alles haben uns seitdem begleitet und unser Leben verändert. Es war eine der frühen Lektionen aus der Pandemie, dass wir anpassungsfähig sind: an die Phasen gravierender Beschränkungen unseres Alltags – und bei der Rückkehr in das Leben davor.
In zwei Punkten lag die Pandemie-Prognose daneben. Erstens: Es ist viel schneller gelungen, hochwirksame Impfstoffe zu entwickeln. Against all odds. Zweitens: Obwohl wir über das beste Werkzeug zur Eindämmung verfügen, stehen wir in der vierten Welle.
Wie passt das zusammen?
Dass die Impfung wirkt, ist bewiesen. Dass wir uns trotzdem weiter mit täglich neuen Erkenntnissen und Ergebnissen beschäftigen müssen, verbindet Wissenschaft und Politik. Denn das Virus wartet nicht stoisch auf die Angriffe der Wissenschaft. Es mutiert, ist trickreich und schlägt mit neuen Varianten – wie Omikron beweist – zurück. Es attackiert unsere Gesundheit, untergräbt unser Vertrauen ineinander und zermürbt uns. Covid-19 ist beides, „Hammer“ und „Tanz“, es schlägt zu und „tanzt“ durch die Welt.
Lange haben wir gedacht, das Virus mit Überzeugungsarbeit besiegen zu können. Diese Hoffnung mussten wir aufgeben. Ein großer Teil der Bevölkerung hat sich für die Impfung entschieden, aber es sind noch zu wenige, um uns zu schützen. Die Pandemie zwingt uns zu handeln. Sie kennt keine politischen Trennlinien oder Machtfragen, nur besser geschützte und ungeschützte Menschen.
Jetzt brauchen alle ein wenig den Mut, Verantwortung zu übernehmen. Jeder von uns.
Was wir nicht länger zulassen dürfen ist, dass eine (laute) Minderheit über die Gesundheit der Mehrheit entscheidet. Zum zweiten Mal nach den Pocken greift der Staat deshalb in die Gesundheitsvorsorge der Menschen ein, um uns alle zu schützen. Eine Verpflichtung kann nie die einzige Alternative zur Überzeugung sein. Sie ist in einer Pandemie, die Menschenleben kostet, Gesundheit zerstört, Arbeitsplätze vernichtet und unser Zusammenleben gefährdet, aber die einzig mögliche Konsequenz, wenn Überzeugungsarbeit an ihre Grenzen gelangt.
Jetzt brauchen alle ein wenig den Mut, Verantwortung zu übernehmen. Jeder von uns. Das kann auch bedeuten, von einer Meinung abzurücken und der Wissenschaft zu vertrauen. Für so manchen mag die Impfpflicht sogar ein Ausweg sein, sich impfen zu lassen.
Deshalb wollen wir die Impfpflicht umsetzen. Denn die zweite große Lektion dieser Pandemie ist: Wir sind erst sicher, wenn alle sicher sind. Bitte lassen Sie sich impfen. Sie schützen damit nicht nur sich selbst, sondern uns alle.
Dieser Gastkommentar ist auch heute in der Tageszeitung „Die Presse“ erschienen.