Sternekoch Santiago Lastra: Gastronom wider Willen

Santiago Lastra wollte nie Gastronom werden. Jetzt aber ist er plötzlich Herr über einen Michelin-Stern. Und Schuld an der wunderbaren Misere ist kein Geringerer als René Redzepi.
Oktober 6, 2022 | Text: Hannes Kropik | Fotos: Maureen Evans; Charlie McKay, Rebecca Dickson

Entspannt sitzt Santiago Lastra am Chef’s Table im Keller seines Restaurants im Herzen Londons. Vor sich eine Tasse Kaffee. Es ist Dienstagnachmittag. „Mein liebster Tag“, sagt er im Gespräch mit dem Rolling Pin, das er via Zoom führt. „Gestern hatten wir geschlossen, heute planen wir die weitere Woche.“ Sein Blick, seine Gedanken, sagt der 32-jährge Mexikaner, sind immer nach vorne gerichtet: „Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, wie weit ich es gebracht habe. Es geht alles so wahnsinnig schnell.“

Wie René Redzepi alles für Santiago Lastra veränderte

Tatsächlich ist Santiago Lastra mit seinem 2020 eröffneten KOL binnen zwei Jahren in lichte Höhen aufgestiegen. 2021 wurde er vom britischen Männermagazin GQ zum Koch des Jahres gekürt, heuer wurde er – als erster Mexikaner in Großbritannien – mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. „Obwohl es ursprünglich nie mein Ziel war, ein eigenes Restaurant zu führen. Eigentlich wollte ich in die Forschung gehen und mit Lebensmitteln experimentieren.“

 
 

Entspannt sitzt Santiago Lastra am Chef’s Table im Keller seines Restaurants im Herzen Londons. Vor sich eine Tasse Kaffee. Es ist Dienstagnachmittag. „Mein liebster Tag“, sagt er im Gespräch mit dem Rolling Pin, das er via Zoom führt. „Gestern hatten wir geschlossen, heute planen wir die weitere Woche.“ Sein Blick, seine Gedanken, sagt der 32-jährge Mexikaner, sind immer nach vorne gerichtet: „Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, wie weit ich es gebracht habe. Es geht alles so wahnsinnig schnell.“

Tatsächlich ist Santiago Lastra mit seinem 2020 eröffneten KOL binnen zwei Jahren in lichte Höhen aufgestiegen. 2021 wurde er vom britischen Männermagazin GQ zum Koch des Jahres gekürt, heuer wurde er – als erster Mexikaner in Großbritannien – mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. „Obwohl es ursprünglich nie mein Ziel war, ein eigenes Restaurant zu führen. Eigentlich wollte ich in die Forschung gehen und mit Lebensmitteln experimentieren.“

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Santiago Lastra liebt Experimente, hier etwa mit walisischer Chorizo

Die Entwicklung verdankt der Kosmopolit, der in jüngeren Jahren in mehr als 20 Ländern von Spanien bis Russland, von Dänemark bis Taiwan gekocht hat, niemand Geringerem als Noma-Chef René Redzepi. Der hatte 2017 eine Pop-up-Dependance seines Lokals in Tulum auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan (südlich von Cancún) eröffnet und engagierte Santiago als lokalen Foodscout: „Auf der Suche nach den besten Zutaten sind wir eineinhalb Jahre lang durch Mexiko gefahren und habe kleine Bauern und Farmer besucht.“

„Eigentlich wollte ich in der Forschung mit Lebensmitteln experimentieren.“

Was er in der Zusammenarbeit mit René Redzepi gelernt hat, war vor allem ein neues Verständnis für das Wesen eines Restaurants: „Das Noma Mexico hat alles verändert: Wir haben aus dem Nichts ein Netzwerk geschaffen. Als dieses Projekt abgeschlossen war, wusste ich: Ich möchte selbst eine neue Community kreieren, ausgehend von einer einzigen Idee. Meiner Idee.“

Und diese Idee war, in London mexikanische Spezialitäten nachhaltig mit britischen Zutaten zu servieren: „Mich hat im Noma Mexico fasziniert, dass Menschen für einen Abend aus Japan eingeflogen sind, um bei uns zu essen. Ich wollte mein Restaurant aber lieber an einem zentralen Ort eröffnen, der für seine multikulturelle Gesellschaft bekannt ist.“

Zweifel? Behält man besser für sich!

Santiago Lastra übersiedelte nach London und mietete sich ein kleines Haus: „Ich hatte viele Ideen, konnte mir aber nicht immer alle notwendigen Zutaten leisten. Also habe ich mich nach Geschäftspartnern umgesehen, die meine Vision verstehen und unterstützen.“ In Jake Kasumov und Marco Mendes hat er sie gefunden. Über ihr Beteiligungs-Unternehmen MJMK investierten der Jurist und der Wirtschaftsfachmann zu ­Corona-Beginn in London in kulinarische Abenteuer – neben dem KOL auch in die portugiesisch angehauchten Casa do Frango und Lisboeta und das vom Havanna der 1950er-Jahre inspirierte La Rampa. „Wir haben im Oktober 2020 eröffnet. Viele Leute haben gefragt, ob wir verrückt sind. Tatsächlich war es für uns ein Glücksfall: Da man damals die Insel nicht verlassen durfte, war ein Besuch im KOL wie ein kleiner Mexiko-Urlaub.“

Die Zusammenarbeit war von Anfang ein harmonischer Glücksfall, sagt er: „Ich wollte ein Lokal eröffnen, in dem sich die offene Küche mitten im Raum befindet. Es sollte wirken wie ein gemütliches mexikanisches Haus, in dem man sich sofort wohlfühlt. Sie haben meinen Ideen vertraut und sehr viel Geld investiert. Ich habe es für mich behalten, aber tatsächlich war ich mir bis zum Abend der Eröffnung nicht sicher, ob mein Raumkonzept überhaupt funktionieren würde. Erst als wir die ersten Teller hinausgebracht haben, habe ich gedacht: ‚Siehst du, es klappt ja!‘“

„Unsere Gerichte sind so intensiv wie das Leben, das wir feiern.“

Kraut im Rampenlicht

Das KOL selbst bietet mittags 40 und abends bis zu 54 Gästen Platz. Im Keller befinden sich die Testküche und ein Private Dining Room für sieben bis zwölf Gäste; in der Mezcaleria – ebenfalls im Kellergeschoß – werden feine Cocktails auf Basis von Agavenschnaps serviert und Snacks für bis zu 30 Besucher gereicht. Seinen Namen verdankt das Sterne-Restaurant dem spanischen Wort für Kraut, Col – „Die richtige Schreibweise war mir aber zu nah am englischen Wort ‚Alcohol‘. Indem wir das Lokal ‚Kraut‘ nennen, heben wir ein Lebensmittel, das in der Gastronomie deutlich unterbewertet ist, auf das Podest, das es meiner Meinung nach verdient.“

Aus den Trümmern erwachsen

Santiago Lastra, Jahrgang 1990, ist in Cuernavaca aufgewachsen. Die 380.000 Einwohner zählende Hauptstadt des Bundesstaates Morelos liegt eine Autostunde südlich von Mexiko Stadt und gilt als beliebtes Ausflugs- und Feriendomizil. „Cuernavaca ist allerdings bei einem großen Erdbeben 1985 praktisch zur Gänze zerstört worden. Als ich ein Kind war, war es eine komplett neue Stadt, ohne Tradition, aber mit jeder Menge Fast-Food-Restaurants.“ Seine Leidenschaft für Kulinarik hat er trotzdem früh entdeckt: „Einige meiner Mitschüler hatten zu Hause eigene Köche. Ich will nicht sagen, dass es das wichtigste Kriterium für Freundschaften war – aber ich habe mich sehr gerne bei denen eingeladen, bei denen das beste Essen auf den Tisch gekommen ist …“

In der Küche, sagt er, war er nie ein Wunderkind – aber immer voller Neugier: „Meine Eltern waren berufstätig und hatten nicht viel Zeit zum Kochen. Eines Tages habe ich mir nach der Schule eine Packung Cracker gekauft. Auf der Verpackung stand ein Rezept für einen Krabbendip, den ich zu Hause ausprobiert habe. Weil es allen geschmeckt hat, habe ich mir danach ein kleines Kochbuch mit italienischen Rezepten gekauft und sie nachzukochen begonnen.“

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Terracotta als vorherrschende Farbe soll Besucher des zweigeschoßigen Restaurants an ein gemütliches Häuschen in Mexiko erinnern

Erfahrungen im ersten Job, mit 15 Jahren in einem kleinen italienischen Lokal, legten den Grundstein für sein weiteres Selbstverständnis – und letztendlich sogar für das Layout des KOL mit der offenen, zentralen Küche: „Ich musste anfangs natürlich immer den Müll hinaustragen. Und jedes Mal wurde mir eingetrichtert: ‚Pass auf, dass dich niemand bemerkt!‘ Aber nicht nur wegen meiner schmutzigen Klamotten – sondern weil man uns Köche nicht sehen sollte. Als ob es eine Schande wäre, für andere Menschen Essen zuzubereiten. Im KOL wollte ich einen Ort schaffen, der nicht nur an ein gemütliches mexikanisches Wohnhaus erinnert, sondern in dem Personal und Gäste gleichberechtigt existieren.“

Wie kann ich die Natur nachahmen?

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Santiago Lastra ist Chef und Küchenchef. Das heißt: Dieses Wagyu Taco entspringt seinem Kopf

Mit der Auswahl seiner Zutaten will der visionäre Gastronom ein Zeichen in Richtung Nachhaltigkeit setzen: „Okay, Mais, Chili und Schokolade bekomme ich nur in Mexiko in der gewünschten Qualität. Beim Rest sind Einfallsreichtum und Sensibilität für Geschmäcker gefragt.“ So ersetzt er Limetten durch fermentierte Stachelbeeren, Avocados durch Pistazien und Mangos durch einen in Kombucha eingelegten und mit Holunderblüten gesüßten Butternusskürbis. „Die Frage ist: Wie kann ich Farben, Gerüche, Konsistenz und Geschmack mit Produkten nachahmen, die regional und saisonal verfügbar sind?

Entscheidend sei ja letztendlich, den Gästen das Lebensgefühl Mexikos schmackhaft zu machen: „Meine Heimat hat eine Nord-Süd-Ausdehnung, die der Distanz von Marokko bis Finnland entspricht. Es gibt also nicht diese eine mexikanische Küche.“ Aber es gibt eine Essenz, die weit über weltweit populäre Tacos, Burritos und Tortillas hinausgeht: „Wir sind leidenschaftliche Menschen. Unsere Gerichte sind so intensiv wie das Leben, das wir feiern. Unsere Küche ist scharf und sauer und süß. Sie ist herzhaft und gleichzeitig leicht und gesund. Jeder Bissen spielt mit all deinen Geschmacksknospen.“

Universell verständliche Seele

International, weiß er, leidet das Image Mexikos unter Berichten über die Verbrechen verfeindeter Drogenkartelle. Im KOL will er die genussreiche Geschichte seiner Heimat erzählen: „Mexikaner gehören zu den positivsten Menschen, denen du rund um den Globus begegnen wirst. Wir lieben es, uns an den schönen Seiten des Lebens zu erfreuen. Durch unsere Küche wird unsere Seele in eine universell verständliche Sprache übersetzt.“ Damit diese aber auch gehört wird, braucht es Gastronomen, die sie erzählen. Unternehmer wie Santiago Lastra.

 

Santiago Lastra

Der Stadtteil Marylebone – zwischen Oxford Street und Regent’s Park gelegen – zählt zu den ersten Adressen Londons. Hier eröffnete Santiago Lastra im Herbst 2020 sein KOL unter dem Motto „Mexican Soul – British Ingredients“; 2022 wurde er als erster Mexikaner in Großbritannien mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Das zehngängige Menü aus saisonalen, regionalen Zutaten (das es auch in vegetarischer und veganer Form gibt) kostet 125 Pfund, umgerechnet 140 Euro, angeboten wird neben einer Wein- auch eine Mezcal-Begleitung.

Info: www.kolrestaurant.com

 

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