Hotel Orient: Vom Schweigen und Geschichte schreiben

Heinz Rüdiger Schimanko führt mit dem Wiener Hotel Orient Europas legendärstes Stundenhotel. Ein Ort, an dem Diskretion die härteste Währung ist, und an dem keine Zimmer verkauft, sondern Erlebnisse geschaffen werden. Ein Besuch.
Oktober 28, 2021 | Text: Stephanie Fuchs | Fotos: Julia Losbichler

Es gibt wenige Orte, über die man so wenig weiß und doch so viel zu wissen glaubt, wie über das Haus mit der Nummer 30 am Tiefen Graben in Wien. Was man weiß: In dem Gebäude eröffnete 1896 ein Hotel, das den Schildnamen „Hotel Orient“ erhielt.

Hotel Orient
Heinz Rüdiger Schimanko vor dem Eingangsportal seines Hotel Orient mitten in der Wiener Innenstadt.

Es gibt wenige Orte, über die man so wenig weiß und doch so viel zu wissen glaubt, wie über das Haus mit der Nummer 30 am Tiefen Graben in Wien. Was man weiß: In dem Gebäude eröffnete 1896 ein Hotel, das den Schildnamen „Hotel Orient“ erhielt.

Hotel Orient
Heinz Rüdiger Schimanko vor dem Eingangsportal seines Hotel Orient mitten in der Wiener Innenstadt.

Man weiß auch, dass in den Räumlichkeiten des Jahrhundertwende-Juwels mit seinen schweren, dunklen Tapeten, prunkvollen Lustern und goldenen Barockspiegeln Filmszenen aus „Der Dritte Mann“ gedreht wurden, Ernst Molden einen Roman schrieb, Udo Lindenberg und Udo Jürgens an der Hotelbar aufs Leben tranken und einmal, vor vielen Jahren, die Feuerwehr anrückte, weil in einem der Zimmer ein Brand ausgebrochen war.

Was man zu wissen glaubt: Kaiser Franz Josef höchstselbst hat hier seine Geliebte zur amourösen Audienz getroffen, Künstler und Schriftsteller, Unterwelt und Oberschicht haben hier geliebt, gefeiert und getrunken. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Und genau das ist es, was den Zauber des Hotel Orient ausmacht, es zu einem bauwerkgewordenen Mythos und einer Institution macht.

Bis ich das Orient quasi über Nacht übernommen hab, hatte ich ein Leben wie ein junger Hund. Schnackseln, Motorrad fahren, trainieren. Das waren meine größten Sorgen.
Die Leiden des jungen Heinz Rüdiger Schimanko

Denn in Europas originellstem und bekanntestem Stundenhotel gibt es keine Namen zu den Gesichtern, die hier zum Beischlaf mit einer nächtlichen Zufallsbekanntschaft, der Geliebten oder der Ehefrau einchecken. Dafür eiserne Diskretion. „Und die“, sagt Heinz Rüdiger Schimanko – eleganter Dreiteiler, charmantes, fast spitzbübisches Lächeln, tiefe, warme Stimme – „ist unser größtes Kapital. Wobei es in Wahrheit ja gar nicht ums Geld geht. Das ist einfach eine Prinzipsache.“

Stolz und Vorurteil

Heinz Rüdiger Schimanko übernahm das Hotel Orient 2005 von seinem Vater, dem ehemaligen Nachtclubkönig Heinz Werner Schimanko. Das alleine liefert natürlich schon reichlich Stoff für Vorurteile, wirft Fragen auf, zum Beispiel: Wie sieht so eine Kindheit aus? Heinz Rüdiger Schimanko atmet tief. „Ach Gott … für mich hatte das alles ja überhaupt keine Relevanz. Als ich Teenager war, war mein Vater schon aus dem Rotlicht-Business ausgestiegen und seriöser Unternehmer. Mich hätte es aber auch nicht gestört, wenn er dabei geblieben wäre, vielleicht hätte ich auch dieses Erbe irgendwann weitergetragen.“ Aber es kam anders, und das Hotel Orient kam für Heinz Rüdiger Schimanko quasi über Nacht. Als Vater Schimanko beim Liebesspiel mit der Freundin einen Herzinfarkt erlitt, war sein jüngster Sohn gerade mal 24 Jahre alt und führte, wie er selbst sagt, „ein Leben wie ein junger Hund“.

„Ich hab am BWZ studiert und meine größten Sorgen waren schnackseln, trainieren und Motorrad fahren“, sagt Schimanko. Der Schritt vom Studenten zum Hotelbesitzer sei zweifelsfrei einschneidend gewesen – und, vorsichtig ausgedrückt, auch mit einigen Unwägbarkeiten verbunden. „Anfangs haben eine ganze Menge Leute geglaubt, jetzt wäre das ein guter Zeitpunkt, um mich zum Verkauf des Orient zu drängen“, erzählt er. „Mindestens ein Mal pro Woche gab’s irgendwelche seltsamen Anrufe mit Morddrohungen. Aber mein Vater war ja in seinem ersten Bildungsweg Berufssoldat und dann Ausbildner beim Jagdkommando. Ich hab schon im Volksschulalter eine ziemlich umfangreiche militärische Ausbildung genossen und war ganz gut vorbereitet auf solche Spompanadeln.“

Lustfördernde Detailverliebtheit

Irgendwann war dann Schluss mit den Spompanadeln, und für Heinz Rüdiger Schimanko fing die Arbeit an. Im ersten Jahr hieß das: Täglich 16 bis 18 Stunden Jobrotation im Haus. Schimanko ist Rezeptionist, Barchef und Stubenmädchen, testet jedes der aufwendig ausgestatteten 20 Themenzimmer mit Namen wie „Engerl & Bengerl“ oder „Afrika“ persönlich, um herauszufinden, was den Aufenthalt für seine Gäste potenziell negativ beeinflussen könnte.

Er lässt die alten Betten ersetzen, investiert in die Erneuerung der Haustechnik, kauft Antiquitäten zu. „Ich vermiete ja nicht einfach nur für ein paar Stunden Zimmer in einem Hotel, ich schaffe Erlebnisse“, sagt er. „Deshalb ist auch jedes kleinste Detail so immens wichtig. Jeder Sessel, jeder Spiegel muss etwas ausdrücken, das die Lust fördert, aber gleichzeitig stilvoll und gediegen ist.“ Ein bisschen verrucht, ja. Schmutzig? Niemals. Wenn hier irgendetwas Schmutziges existiert, dann höchstens in den Köpfen der Gäste.

Oberstes Gebot: Diskretion

Um deren Wohl kümmert sich Schimanko, der neben dem Orient gemeinsam mit seiner Schwester Michaela auch die nicht minder legendäre Eden Bar in Wien führt und nebenbei Geschäftsführer eines Hundeausbildungszentrums ist, mittlerweile nicht mehr rund um die Uhr. Es ist in erster Linie an den aktuell 12 bis 15 Mitarbeitern, an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden am Tag die Sehnsüchte der Gäste zu stillen.

Nach 16 Jahren Hotel Orient bin ich Experte für Paarbindungsdynamiken. Glaub mir: das Hotel Orient hat mehr Ehen gerettet als zerstört.
Heinz Rüdiger Schimanko über Ehefrust und neu entfachte Lust

Seine Mitarbeiter, sagt Schimanko, seien aber sehr viel mehr als nur Arbeitskräfte. „Diese Menschen sind Teil der Familie, viele von ihnen waren schon bei meinem Vater in der Eden Bar oder im Orient angestellt und gehen jetzt unter meiner Führung in Pension.“ Ihrer Verschwiegenheit und Diskretion könne er sich zu einhundert Prozent sicher sein, man vertraue einander. Was aber natürlich nicht bedeutet, dass die Vertrauenswürdigkeit neuer Mitarbeiter nicht auch mal auf die Probe gestellt werde. Wie sieht so ein Schimanko’scher Diskretionstest aus? „Du schickst zum Beispiel jemanden los, der dem Mitarbeiter eine schöne Summe für Informationen über einen Gast bietet. Hält er dicht und dringt auch sonst nichts über unsere Kunden nach außen, dann funktioniert das System, wie es soll.“

Das Dienstleistungssystem im Orient folgt klaren Regeln. Wer hier Betten zerwühlen möchte, muss persönlich antanzen, darf aber seine individuellen Zimmerwünsche telefonisch ankündigen. Die Gäste checken anonym ein, der Zimmerpreis für ein dreistündiges Schäferstündchen beträgt zwischen 66 und 99 Euro für eine Suite, bezahlt wird mit Karte oder in bar. An den Wochenenden können die Zimmer auch für eine ganze Nacht gebucht werden, ein Angebot, das vor allem von Pärchen gerne angenommen wird.

„Diskretion ist im Orient oberstes Gebot. Unsere Gäste haben keine Namen, und meine Mitarbeiter haben grundsätzlich alle Alzheimer.“
Heinz Rüdiger Schimanko über einen stummen Diener namens Hotel Orient

Es ist ein stetes Kommen und Gehen, auch während des Corona-Lockdowns hatte Schimanko im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen geöffnet. „Aus beruflichen Gründen durfte man seine Sekretärin zum Diktat treffen, ja, und außerdem galt es auch immer wieder die Stillung eines dringenden Wohnbedürfnisses zu befriedigen“, schmunzelt er. Man sei, was den Umsatz angehe, noch nicht wieder ganz auf Vorkrisenniveau. „Aber ich kann mich nicht beschweren. Im Prinzip beneide ich mich täglich selbst.“

Voll das Leben

Lieber gibt er zum Schluss zwei seiner persönlichen Lieblingsgeschichten aus 16 Jahren Hotel Orient preis. Etwa die des Ehepaares, das sich bei der Hochzeit das Versprechen gab, sich ein Mal im Monat nur um ihr Sexualleben zu kümmern und seit 25 Jahren ins Orient kommt. „Das haben sie mir an einem Sonntag an der Bar erzählt, und dass das Orient der Grund ist, warum sie immer noch verheiratet sind.“ Oder das junge Paar, das einen Kinderwagen durchs Eingangsportal in die Lobby des Hotels hievte. „Wir haben uns erst überhaupt nicht ausgekannt, bis sie uns dann erklärt haben, sie wollten uns nur schnell das Ergebnis ihrer Hochzeitsnacht in der Kaisersuite vor einem Jahr zeigen. Das hat mich wirklich fast zu Tränen gerührt.“ Im Orient werden eben nicht einfach nur Sehnsüchte gestillt, sondern Lebensgeschichten geschrieben.

www.hotel-orient.at

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